„Im Bildungsbereich ist Deutschland ein Entwicklungsland“
Theresia Degener
Lieber Mensch am anderen Ende des Internets,
Joscha ist Ende 2003 geboren. Pränataldiagnostisch bekam sie die Nachnamen Kleinhirnhypoplasie und Balkenagenesie verpasst. Ich
habe davon nur so viel verstanden: Ihr Hirn ist so unaufgeräumt wie meins und unser Wohnzimmer.
Joscha ist die beste Tochter von Welt, was sonst. Ich erlebe sie als hochbegabte und entwicklungsverzögerte Teilzeitautistin. Wir
beide haben sogar etwas mit der Bundeskanzlerin gemeinsam: Wir essen nicht kleckerfrei und halten das für weniger verwerflich als andere Eigenschaften der mächtigsten Frauen der Welt.
Hochbegabt und behindert: Mit 100-prozentiger Schwerbehinderung und Cambridge-Zertifikat mit fünf, autodidaktisch. Laufen erst mit
vier, na und. Beim Schwerbehindertenausweis hat sie mir ein paar Gramm voraus, aber in der Sprachbegabung bin ich ihr radikal unterlegen, in Quantität und Qualität. Sie konnte perfekt lesen mit
drei, auch Sütterlin. Den ersten Rechtschreibfehler prangerte sie empört in einem Bilderbuch an. Mit sechs Jahren Gedichte schreiben, die vom WDR beim Wettbewerb ausgewählt werden, vorgetragen
von Schauspielern der Stadt Köln. – Meine, zeitgleich eingereicht, wollten die nicht.
Im Umgang mit Sprachen ist Joscha genial: Sie schlürft sie auf, wenn sie sie hört, gleichsam im Vorübergehen. Französisch,
Holländisch, Spanisch. - Ihre Sprachspiele? – Wenn ein Kind wahrhaft witzige Werbeslogans entwickelt für ein Fastfoodunternehmen, das – ohne Namen zu nennen - mit Mc anfängt und Donald aufhört –
und dafür Honorar erhält, spricht das für sich und mehr noch für sie… Joscha muss kein Savant sein. Sie hat, wie wir alle, Stärken und Schwächen. Inklusion heißt, sich auf die Stärken zu
konzentrieren.
Natürlich bin ich inbrünstig stolz auf sie. Auch wenn sie durchaus auch Talent hat, ein entzückendes Biest zu sein. Manchmal
reicht der Mond nicht, sie darauf zu schießen; eher Mister Mars…
Über Joscha gibt es eine Reihe von Veröffentlichungen. Sie ist, ohne dass sie das wahrnimmt, ein Promi-Kind in Sachen gelingende
Inklusion. Ich halte die Artikel insofern für wichtig, als sie eben halfen, die Verfrachtung auf eine Förderschule zu verhindern. Autismus = geistige Behinderung = Förderschule. Davon halte ich
nichts. Das ist schon alles.
Und ich? – Einiges aus meinem Leben im früheren Jahrtausend findet man über Wikipedia, unter Frollein Sonja Rö usw.
- Davon habe ich zufällig vor zwei Jahren erfahren. Schade nur, dass der Verfasser oder der Verfassende oder die Verfassende oder
die Verfasserin meinen aktuellen Ruhm nicht kontinuierlich ergänzen. Was habe ich bloß falsch gemacht. So wird das nichts mit mir und dem Nobelpreis. - Einiges kann man auch auf Facebook
finden.
Schier aus zeitlichen und kognitiven Gründen bin ich dort eher selten. Die Zwischenräume meiner Besuche dort sind jedenfalls so
umfangreich, dass ich immer wieder vergesse, wie das geht, das facebooken. Das Soziale-Netzwerkeln. Meine Hirnkompetenz ist – ohne Koketterie – stark beeinträchtigt seit einer Hirn-OP. Man nennt
das Gedächtnis. Es hat aber den Vorteil, dass ich oft Texte auf meinem Rechner finde, die ich nicht kenne, und manchmal entsetzt sein muss, weil mein Name drunter steht. Meistens mag ich sie
eher lieber nicht.
Genug. Lieber Mensch am anderen Ende des Briefes. Du hast nun schon eine Menge von uns erfahren, gell. Wenigstens weißt
Du mehr von mir als ich von Dir.