Hier spürte ich meine Konturen. Aber jetzt: Raus aus der Kiste! Weg mit der Begrenzung! - Ha! Lachen kann ich auch - und wie! 



.. EXplosiv INklusiv

 

Hier das „Kleingedruckte“ – Bitte lesen Sie nur, wenn Sie Herkunft und Hintergründe dieser Umsetzung von Inklusion nach der UN-Konvention zur Integration Behinderter erfahren wollen. – Ich warne: Es wird lang und Gefühle ließen sich beim Schreiben nicht vermeiden.

Germanisten reden zu viel und zum Ausgleich schreiben sie nicht weniger, smile. – Germanistik, das geht nie wieder raus. – Fließtext, endlos! Bleiwüste! – Ich höre Sie schimpfen. - Recht so! Aber warum sollte ich mich an die Erfordernisse effizienter Homepage-Gestaltung gewöhnen, wenn ich es schlicht nicht kann?

 

INklusiongelingt, so lautet die These. Nein, dies kostet keine Billionen. Nein, Förderschulen müssen nicht abgeschafft werden. Warum diese nicht, wo möglich, teilweise für Regelschulen öffnen? Pädagogen und Sonderpädagogen, zu neudeutsch: Förderschullehrer im Tandem, kein Cent nötig für behindertengerechte Ausstattung

 

Ich frage überall nach dem Fortgang der Inklusion, seit die UN-Behindertenrechtskonvention, sozusagen aus Versehen unterschrieben, endlich, burschikos ausgedrückt, peinlich spät auch endlich in Deutschland ratifiziert worden ist und in die Pötte kommt. – Und sonst? - Inklusion auf Türkisch, Inklusion auf Griechisch – wo immer wir landen, schreibe ich dazu. In Italien wurde nicht lange gefackelt: Weg mit den Förderschulen. Ob das gut ging? – In den USA sollen 96 Prozent der Behinderten integriert sein. Wie sieht das aus im Detail?

Laut Theresia Degener, die in Brüssel und Genf den Fortgang der Inklusion kontrolliert, ist Deutschland Entwicklungsland, was Inklusion anbelangt, noch hinter Ghana

Ich habe mit Theresia Degener mailen und in einem Interview sprechen dürfen. Ich schäme mich dafür, währenddessen vergessen zu haben, dass Sie neben dieser unbändigen Persönlichkeit Contergan hat. (Der Ausdruck, „an Contergan leidet“, scheint mir unangemessen und arrogant.) Ich habe sie tippen gesehen mit dem zehn-Zehen-System auf dem Laptop und sie hat mir Kaffee serviert – und vielleicht würde es ihr sogar gefallen, dass es mir trotz aller Recherche lange nicht im Bewusstsein war, dass ihr die Arme fehlten. Sie fehlten ihr nicht. Einfach, weil sie so fesselnd von Inklusion sprach. Sie zu ersetzen wusste. Und alles konnte. Ohne Hilfe. Besser als andere. Jedenfalls besser als ich: mit Menschen umgehen. - Nach dem Interview hatte ich bei allem Gefühl meiner Peinlichkeit den Eindruck, ein bisschen mehr verstanden zu haben, was das sein kann und manchmal ist: Inklusion. Diese Frau gehört mehr als dazu.

 

Inklusion auf Teneriffa: Spaßeshalber füge ich die Reaktion der Internationalen Schule in Adeje:

 

"Tut mir leid, aber unsere Schule nicht geeignet ist, Kinder mit Behinderungen / Autistic unterrichten.

Ich würde empfehlen, für spezialisiertes Zentrum zu suchen.

Sehr zu begrüßen

Dorota Dabrowska

Administración"

Auch diese Frau wurde trotz ihrer bescheidenen Sprach- und Intelligenzbegabung auf einer Internationalen Schule inkludiert, Scherz beiseite. - Prophylaktische Selbstverteidigung: Ich bin nicht für Inklusion um jeden Preis. Nur: Autismus, ab in die Sonderschule, das ist mir zu pauschal. - Natürlich kenne ich Kinder mit schweren Formen von Autimus, denen man keinen Gefallen tut, wenn man sie in eine Regelschule steckt, komma, aber... Individualisierte Betrachtung lautet für mich das Zauberwort. Individueller Unterricht die logische Konsequenz. Wann endlich setzen Schulbuchverlage das um?

 

Eltern Behinderter, eine vergessene Kategorie: Was ich für einen Kampf hinter mir habe, wie krank ich darüber geworden bin, merke ich aktuell daran, dass ich mir die letzten Jahre ansehe, um daraus - längst überfällig - eine Homepage zu kreieren. Ich muss so vieles nach-lesen. Im vorigen Jahrtausend war ich Verlagspressesprecherin und Autorin, die renommierte Literaturpreise bekommen hatte. In der neunten Schwangerschaftswoche erfuhr ich, dass mein Kind schwerste Hirnanomalien haben würde, (Corpus Callosum, Balkenagenesie, Kleinhirnhypoplasie hießen die Vokabeln, die ich lernen musste. Ich entschied mich gegen jedes Anraten für das Geschöpf, das in mir wuchs, und habe es nicht bereut. Für Abtreibung hatte ich trotz aller Angst kein Talent. Als Risikoschwangere, über 35, war ich völlig unbedarft über einen Triple-Test in die Maschinerie der Pränataldiagnostik hineingeraten – die man nur in Erwägung ziehen sollte, wenn man eben bereit wäre, aus einer diagnostizierten Behinderungswahrscheinlichkeit heraus Konsequenzen zu ziehen. Triple-Test, in der Zwischenzeit durch die – ethisch heftig diskutierte Genforschung und einen simplen und zuverlässigeren Bluttest ersetzt; somit zu einem archaischen Weg der vorauseilender Diagnose mutiert, damals zu höchstmöglichem Prozentsatz in Fehldiagnosen mündend – wer das machen ließ, konnte sich kaum noch vor weiteren Tests schützen: Doppler-Ultraschall, Fruchtwasser-Untersuchung, jünger in der Variante der Chorionzottenbiopsie. – Dass durch solche Untersuchungen eine Sterblichkeitsrate von bis zu zwei oder mehr Prozent oder eben eine Behinderung der Embryos erzeugt wurde, wurde in Kauf genommen. Bloß kein behindertes Kind… (Man vergleiche: Welches Medikament mit Todesfolge wird zugelassen?)

Chorionzotten-Biopsie. Harmlos sei das, sagt der Arzt. Eine dicke Nadel, mit Schwung in die Bauchdecke gerammt, ein bisschen Fruchtwasser und schon wisse man mehr. – Nur komisch, dass ich mich danach vierzehn Tage lang kaum noch auf den Beinen halten kann und mich auch danach nur an Wänden gestützt durch die Gegend schleppe.

Tja, behindert, wie vermutet - der junge Pränataldiagnostiker wirkt nachgerade stolz. Es sei seine erste Chorionzotten-Biopsie gewesen, jetzt könne er mir das ja sagen.

 

Eigene, na ja, „Karriere“ beiseite, na und. Neonatologie, der Neonatologe hatte geerdet: Bei diesen Abweichungen von normaler Hirnstruktur kann alles sein: Völlige Unauffälligkeit oder Schwerstmehrfachbehinderung. Damit war die Abtreibung vom Tisch. Ich kann und will ein Kind, das eventuell behindert und eventuell gesund sein wird, nicht nebenbei vorsorglich beseitigen, was meinen Sie? In dubio contra reo? Würden Sie ein Embryo, das mutmaßlich Tendenzen zum Ladendiebstahl und schlechten Noten in Mathe aufweisen können werden würde (!), prophylaktisch über die Wupper gehen lassen? –

 

Ich bin zur Welt gekommen, ohne dass meine Mutter mich je auch nur ein einziges Mal im Ultraschall hatte begutachten oder beschlechtachten können – sie nahm mich an, wie ich war.

 

Mein Kind kommt mit zwei Armen und zwei Beinen und einem Kopf auf die Welt und ich komme nicht umhin, es zu lieben auf den ersten Blick, egal wie es war, wie es ist und wie es werden würde. Sie ist das Schönste und Beste Kind, das man je gesehen hat. Das behaupten andere Mütter auch. Nur mit dem Unterschied, dass es bei uns stimmt. Es wird voraussichtlich keine lila Lackschuhe tragen können. Aber macht es das nicht noch sympathischer?

 

Intensivstation, weil: 20 Gramm fehlen zur Entlassung aus dem Krankenhaus. 2000 Gramm, das steht in den ärztlichen Vorschriften, Joscha hat nur 1980 Gramm im Angebot. Brutkasten, fiepende Kontrollinstrumente, Herzmessungen und noch viel mehr. In den anderen Brutkästen Säuglinge mit 800 Gramm, kaum aufzufinden. Ich denke nach.

Ihr Kind wird sich nicht stillen lassen, sagt die Krankenschwester, mich sehr bedauernd. Dazu fehlt ihm einfach die Kraft, zum Nuckeln meine ich. Stellen Sie sich schon mal drauf ein, pumpen Sie ab. Wir füttern sie dann für Sie. - Aber Joscha, Sturkopf, ganz die Mama, hält sich nicht dran. Wir gehen dann, mit fehlenden zwanzig Gramm, auf eigene Gefahr nach Hause.

 

In der zwölften Woche außerhalb meines Bauches Epilepsie. Puh, ich hole tief Luft. Es ist nicht schön, den Säugling plötzlich ausführlich zucken zu sehen. Blutentnahmen, Urinproben in festgeklebten Tütchen, EEGs, (MRT) Magnetresonanztomographie unter Betäubung, schlimmer noch: Rückenmarkspunktierung und Lidsperren ohne Betäubung. Ich sollte raus aus dem Raum. Mein Kind schrie erbärmlich und ich verabscheue mich bis heute, dass ich das zugelassen habe. Und dann Medikamente, Antiepileptika oder Anti-Epileptika, vier an der Zahl, mehr sind für Säuglinge und Kleinkinder nicht im Angebot, die Pharmaindustrie scheut die Kosten für die notwendigen Tests für die wenig lukrativen Zielgruppen. Vier Medikamentierungen, ganz ruhig, eins nach dem anderen, in immer höheren Dosierungen. Joscha zuckt weiter. Schließlich gibt sie auf und öffnet nicht einmal mehr beim Stillen oder Windelwechseln die Augen. Sie hat das Vertrauen in mich verloren, das schießt mir durch den Kopf. Gehen wir zur Praxis, kotzt sie verlässlich mit Anlauf vor den weißen Kittel; die Ärztin lacht nicht mehr und fühlt sich persönlich angegriffen und ruft die Arzthelferinnen zum Wischen. – Ich sage ihr, dass wir ausschleichen werden. Ordentlich, nach Beipackzettel. Sie habe sicher nichts dagegen einzuwänden. - Joscha hört nach einer Woche zum ersten Mal wieder Vögel zwitschern und lächelt. Ich werde den Blick nie vergessen. Sie hebt den Kopf. Sie entdeckt mich beim Nuckeln, plötzlich; ihre Augen neugierig in meinen. - Die Krämpfe verschwinden. - Dann sei das halt eben doch keine echte Epilepsie gewesen, aber bei dem Vorbefund…, sagt die Ärztin trotzig. Dann sei es halt doch nur ein harmloser Fieberkrampf gewesen, das komme auch bei nichtbehindertem Nachwuchs ab und an vor und lege sich dann halt wieder. - Joscha kotzt ein letztes Mal vor ihre Füße. Sie hat es mir sozusagen abgenommen und ich lobe sie und bin ihr dankbar. Komm, lass uns tanzen, singe ich und drehe mich mit ihr im Kreis, sanft, ehrfürchtig. –

 

Nebenbei: Joscha flattert bis heute intensiv, Ataxie nennt sich das, oder sie wippt mit dem Kopf stereotyp hin und her, Hospitalismus schimpft sich das, wenn sie auch nur in den Lautbereich technischer Untersuchungsgeräte kommt. Signal-Geräusche vom Computer mag sie gerne, Musik und Hörpsiele liebt sie über alles, elektronische Geräusche machen ihr nichts aus. – Aber wie wir alle wissen, haben Säuglinge kein Gedächtnis, weshalb man sie auch ohne Bedenken einer Rückenmarkspunktierung oder der Setzung von Lidsperren ohne jedwede Betäubung aussetzen kann. – Nein, ich habe per se keine Voreingenommenheit gegenüber schulmedizinischer Methodik. Aber das Kriterium der Angemessenheit… - Müssen per se alle zur Verfügung stehenden Instrumentarien ausgeschöpft werden? – Wie naiv man als Mutter ist: Man fragt nicht nach der praktischen Verwertbarkeit etwaiger Untersuchungsergebnisse. Man fragt nicht, wie viel Erfahrung angehende Ärzte an Universitätskliniken haben; fragt nicht, wie viele positiven Diagnosen so ein Arzt noch braucht, um die Zulassung für dieses oder jenes fachliche Zusatzzertifikat  noch zu erlangen hat.

 

Mir fällt auf: Joscha ist skeptisch geworden. Sie lässt Berührungen nur ungern zu. Wer weiß, wer sie jetzt schon wieder piesacken will. Ich verurteile mich nachhaltig wegen all meiner Skepsis an ihr. Was wäre gewesen wenn… Wenn ich zum Beispiel keinen Triple-Test hätte machen lassen, naiv, unreflektiert. Mea maxima culpa.

 

Förderung, von Anfang an: Frühförderung, die brauche vor allem ich. Wie gehe ich mit meinem Kind um, dem man vorsorglich nachsagt, es würde sich anders entwickeln. Wie gehe ich mit meinen in der Zwischenzeit paralysierten Ängsten um: Frühförderung also, Schwimmen, (SI) Sensorische Integration, Logopädie, Ergotherapie, Reittherapie, Musiktherapie, Krankengymnastik, Osteopathie, Psychotherapie, Botox-Spritzen gegen Spitzfußstellung, Orthesen, Brille, Psychomotorik, Sehschule, Familienunterstützender Dienst, Schulbegleitung. (KNZ) Kinderneurologisches Zentrum, (SPZ) Sozialpädiatrisches Zentrum, (ATZ) Autismuszentrum, Gesundheitsamt, Selbsthilfegruppen, reha-kids.de, Behindertenvereine, (AVT)autismusspezifische Verhaltenstherapie. Es sammelte sich über die Jahre, ich verstand es als Angebote für mein Kind, die Therapeuten jeweils handverlesen, Bobath oder Vojta oder welche Form der Physiotherapie, Schweißausbrüche, Gewissensfragen. –

 

Das wenigste von alledem zahlen Krankenkasse oder Pflegekasse; sie ermitteln den Grad der Pflegebedürftigkeit über den MDK (Medizinischer Dienst der Krankenkassen). Pflegende sind gehalten, in einem Pflegetagebuch zu dokumentieren, wie viele Minuten sie täglich beispielsweise für das Waschen oder Anziehen, Füttern oder Windelwechsel ihres Behinderten brauchen. Anerkannt wird nur Grundpflege. Zeit für Zuwendung ist nicht vorgesehen. Nicht einmal die Zeit für Therapien wird anerkannt, Eltern fliegen ja ihre behinderten Angehörigen g’schwind hin und z’rück und müssen dazwischen nur warten in wohligem Nichtstun... - Fröhliche Formulare: Ich soll in einer Tabelle eintragen, wie lange ich brauche, um Joscha zu rasieren. Am besten alles mit der Stoppuhr. – Besuche vom MDK sind oft der Horror. Angehörige von Behinderten sind natürliche Feinde und stehen generell unter Betrugsverdacht. Der Prüfer notiert oder tippt absichtsvoll gefühllos, ohne Regung, Interesse, Anteilnahme. Katalogisiert die Katalogisierung. Von seiner Einschätzung hängt ab, welche Pflegestufe und damit auch, welche Therapie bewilligt wird oder auch nicht. Das meiste eher lieber nicht… Nun gut, Krankengymnastik für ein außergewöhnlich gehbehindertes Kind, das lässt sich schlecht abwimmeln. Aber sonst… - Sie ahnen nicht, was sich alles ablehnen lässt. – Sensorische Integration? Deren Wirksamkeit ist nicht erwiesen. Sinneswahrnehmungen, pah. Vor allem autistische Menschen, die spüren doch nüscht und nix. Weiß doch jeder. - - -

 

Also ran an die Auflösung der Büchersammlung

 

Der Kampf begann nicht erst mit dem Kampf um Therapien. – Zugegeben, Ihr Kind ist seit seiner Vorgeburt schwer schwerstbehindert. Aber das heißt nicht, dass Sie mehr Zeit für es brauchen, weil: Eltern gesunder Säuglinge und gesunder Kleinkinder brauchen auch viel Zeit für ihren Nachwuchs. Also sagen wir: Pflegestufe eins, einverstanden? – Nein, bin ich nicht. Widerspruch, Euer Ehren(werte Pflegekasse). – Gutachten von Fachärzten sind zunächst mein Freispruch von Ausbeutung und Sozialschmarotzertum, von Krankenkassen, vom Staat. Widerspruch bewilligt. – Gut, mag natürlich doch insgeheim so sein, dass ich meine hochdotierte Stelle gezielt über Bord geworfenhabe, um von dieser leichten Nebentätigkeit von Zuhause in Form der leichten Betreuung eines schwerbehinderten Kindes leichtherzig und leichtfüßig zu leben, die meiste Zeit die Füße auf dem Wohnzimmertisch – unterschwellig bleibt der Verdacht, in dubio contra reo, auszuschließen ist das nicht. - Aber warum der Kampf damit weiterging, dass ich mein Kind, bewusst zunächst in einem heilpädagogischen Kindergarten untergebracht, allmählich in einen integrativen überleiten wollte, habe ich bis heute nicht verstanden. Heilpädagogische Kindergartenbetreuung ist teurer als integrative. Nichteinlösung des Rechts auf Inklusion rächt sich lebenslänglich: Förderschulen, Behindertenwerkstätten, Betreutes Wohnen, Pflegeheime, Grundversorgung über das Sozialamt… - Kostet das alles nicht weitaus mehr als erfolgreiche Inklusion? – Aber das sind nur ketzerische Gedanken eines Wesens ohne BWL-Studium, die die industriell durchorganisierten Umgangsformen mit Behinderten zu Unrecht in Frage stellen. Und nicht vergessen: Wie viele Arbeitsplätze kämen ins Kippen, setzte man daran, die sorgsam manifestierte Separation und Segregation von Menschen mit Beeinträchtigungen zu überprüfen?

 

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Wir machen einen Sprung (in der Schüssel):

 

Inselbegabungen: Joscha konnte mit drei Jahren perfekt lesen, hat erst mit viereinhalb laufen gelernt, na und. Ich habe nach ihrer Geburt nur von zu Hause aus arbeiten können, nachts, Lektorat, Korrektur, Bewerbungstraining, Coaching, ein bisschen Journalismus. Ich lese 1200 Seiten eines geschichtlichen Fachbuchs, um eine Rezension zu schreiben und erhalte 200,00 Euro Aufwandsentschädigung und viel, viel echtes Lob über die Qualität meiner Arbeit. Ich lektoriere ein Handbuch Pränataldiagnostik, natürlich ehrenamtlich. Es wird ein Bestseller. Auch in der siebzehnten Auflage komme ich nicht vor. – Kulturarbeit, Literatur, Literatüren öffnen: kein täglich Brot gib uns heute. - Ich fing gleichsam notgedrungen an, meine Büchersammlung aufzulösen, um die Förderungen zu finanzieren - und darauf konzentriere ich mich im Moment. Den Nobelhobelpreis werde ich erst postum erhalten. 22.000 nicht von mir geschriebene Bücher im Online-Antiquariat im Angebot, das sind viele Nächte, sieben pro Woche, ausnahmslos. Pause und Urlaub – das werden Fremdwörter.

Ich habe im vorigen Jahrtausend eine Reihe ansehnlicher Literaturpreise bekommen. Mit Joschas Geburt war Schluss mit der Prosa und der Lürrik. Ich schreibe immer noch, nur meine Themen haben sich geändert. Es kommen immer wieder Vokabeln wie Autismus und Inklusion darin vor.

 

Verwandte, Freunde, Bekannte: Sie werden rarer. – Die Diagnose „Autismus“ wird zur Isolationshaft. Joscha hatte sie mit eineinhalb Jahren erfolgreich und zweifelsfrei „absolviert“, die Symptome waren unmissverständlich und gleichsam nach Lehrbuchkatalog aufgetaucht. Die frühe Diagnose war so angebracht wie gut, weil sie Therapien möglich machte. - Was bleibt: Jeden Tag sehen, was geschieht, wie sich Joscha entwickelt, das ist bestimmend für die Tageslaune. Fortschritte, Rückschritte. Entwicklungsverzögerung. Frühbegabung. Und der Briefkasten: Wie viele bescheidene Anträge so ein Amt, so eine Behörde, so eine Pflegekasse, so eine Institution nach längstmöglicher Bedenkzeit ablehnen können, irre.

 

Kämpfen für, nicht Kämpfen gegen: Ich kämpfe für, ich kämpfe um. – Ein paar „Zeugnisse“ von vielen, die für sich sprechen:

 

Sensorische Integrationstherapie mit einem autistischen Kind

Astrid Baumgarten und Sonja Röder

http://www.ergotherapie-karow.de/images/fachartikel/baumgarten.pdf

 

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In Inklusion eine Eins

Mit und ohne Behinderung: An einer Bonner Schule lernen Kinder gemeinsam - darunter auch die autistische Joscha

Anita Hirschbeck

bundesweit in mehr als 40 renommierten Medien verbreitet über die dpa.

http://www.welt.de/print/welt_kompakt/koeln/article113096921/In-Inklusion-eine-Eins.html

 

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Ein Video, WDR:

Erfahrungen mit der Inklusion

Meike Hendriksen

http://www1.wdr.de/mediathek/video/sendungen/aktuelle_stunde/videoerfahrungenmitderinklusion100.html - - -

 

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Joscha hat jetzt einen Plan (auch unter „Struktur lautet das Zauberwort“

Angela Sichelschmidt und Sonja Röder https://www.thieme.de/statics/dokumente/thieme/final/de/dokumente/tw_ergotherapie/ep514_leseprobe_facebook.pdf

 

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Joscha besucht erfolgreich eine Regelschule, eine Grundschule. Joscha besucht eine Regelschule, eine Weiterführende Gesamtschule.

 

Meine Haare sind intensiv ergraut auf dem Weg dorthin. Die Hürden dorthin sind an Borniertheit kaum zu überbieten, auch nicht meine eigenen. Was wird Joscha später ihrem Psychoanalytiker zu erzählen haben über mich? – Meine Mama hat immerzu offen mit mir gesprochen über meine Behinderung. – Gut? Schlecht? Anerkennend? Empört? – „Verkauf zugunsten eines hochbegabten asperger-autistischen Mädchens - - - Wir wollen seine Förderung finanzieren.“ Zu viel „Prominenz“ und Streuung über Amazon? – Ich weiß es nicht. – Kind, ich wollte doch immer nur das Beste für Dich! – Ob sie das auch so sieht?

 

Zurück in die Zukunft: Wie schnell das gehen wird, dass Joscha die Schule abschließt.

 

Und dann? Ich bin Ü50, hatte Blutgerinnsel und Tumor im Hirn, Aneurysmen im satten Plural und Angiom, nach etlichen mikroinvasiven Eingriffen mit geöffneten Augen und bescheidenem Erfolg, zwölf Stunden OP, 48-mal getackert. In zwei Stunden haben wir das. Hieß es. Die Ärzte hatten sich am Anfang über das gestrige Tennisspiel unterhalten, aber irgendwann wollte keine Ader und keine Vene mehr zueinanderpassen. – Der Schädel deformiert, die Schläfe verdellt, der Kiefer verschoben, Kopfschmerzen und nicht vergessen: Kopfschmerzen und nicht vergessen: sonstige Schmerzen, allüberall. – Hier, vergessen Sie den nicht, Ihr Schwerbehindertenausweis. – Ah ja, danke. - Kurz: Es wäre zu viel vorauseilender Optimismus, wenn ich mich um meine Rente im Alter von 100 sorgen würde. Aber auch 65 ist ein passables Alter. Also gilt es jetzt, eine Existenzform für Joscha zu erarbeiten, weg von Behindertenwerkstatt und Betreutem Wohnen. Ehrlich, ich war dort anlässlich eines Beitrags für das Deutschlandradio zum Thema „Inklusion und Arbeitsmarkt“. Ehrlich: schrecklich. Inklusion ist dort noch nicht angekommen.

 

Ich will die Materialien für ein Online-Antiquariats-Portal sammeln und sichten. Neunzehn Ordner zum Thema INklusion und OUTismus durchforsten und 27.000 mails. Wo zum Teufel steckt der Kern? - Ich möchte ja nicht nur für Joscha arbeiten; ich träume von der Gründung eines Integrativen Unternehmens, geführt von Behinderten, mit Behinderten, für Behinderte, auch von, mit, für sogenannte Nicht-Behinderte, die "normal" zu nennen ich mich scheue, smile.

Behinderte sollen nicht in die Wäscherei verfrachtet werden oder in den Landschaftsgartenbau. Sie sind zum Teil so qualifiziert, dass es eine Beleidigung wäre, ihnen etwas anderes als kluge Arbeitsbereiche anzubieten. Ich kann Ihnen zeigen, wie man modern-antike Bücher "restauriert" und sie vor dem Altpapier bewahrt. Wie man sie im Internet verkauft. - Deutschland: Was bekomme ich reichhaltig Anerkennung für die Idee, nur: Ich bin keine Institution wie die Lebenshilfe oder die Diakonie. Und somit nicht förderwürdig. Selbst wenn ich verdeutlichen kann, dass wir mit so gut wie nichts zu leben gewohnt sind, selbst wenn ich tragfähige Kalkulationen vorweisen kann, selbst wenn kaum Kosten anfallen, weil die Buchbestände gesichert sind, die Werkzeuge, die wir brauchen, samt und sonders vorhanden, erwarten Landschaftsverband Rheinland et al eine Institution, die dahinter steht. Das widersteht meiner Vorstellung von Inklusion: Ich will gerade nicht dorthin, dass man die Kosten für das Recht der Behinderten, am Leben teilzunehmen, in unermessliche Höhen treibt. Im Gegenteil: Ich serviere keine aufwändige Förderung, sondern ich fordere auch. Zurechtzukommen, zum Beispiel, zurechtzukommen mit einfachen Mitteln, ohne Behindertenbonus, wo dieser nicht zwingend ist. „Gönnen Sie Ihrer Tochter doch einen schicken Rollstuhl", hörte ich mir unzählige Male an. - "Warum?", fragte ich, "Sie sehen doch, dass sie auf die eigenen Beine will." - Spitzfußstellung, Orthesen, wir liefen zweieinhalb Jahre mit beiden Händen an Wänden entlang, in den Straßen und mehr noch in ruhigen Kirchen, sie hangelte sich durch, plötzlich lief sie frei. Tetraparese, pah! Ich will! - Mit dem Spleen, dass sie verlangte, dass man ihr alle Autokennzeichen vorlas, schnappte sie die Buchstaben auf und las mir plötzlich einen achtlos hingeworfenen Notizzettel vom Esstisch vor, in meiner Sauklaue, und schreckte auch vorm Sütterlin der Oma nicht zurück.

 

Sie merken, ich bin stolz auf Joscha. Es hieß, Sie bekommen ein liegend-krankes Kind, wahrscheinlich blind, womöglich nur mit Magensonde zu ernähren usw. – „Machen's weg, machen's ein neues", nuschelte der Pränataldiagnostiker Richtung Teppich. - "Nein", sagte ich, ich gehe jetzt nach Hause, mache mir und dem Kind einen ordentlichen Salat, und werde mein Augenmerk darauf setzen, wie es früher so schön hieß, in  G U T E R  Hoffnung zu sein, ohne Doppler-Ultraschall, der sich für meinen Embryo anhört wie zwei einfahrende U-Bahnen. - Natürlich hatte ich Angst. Aber an aller Niedergeschlagenheit vorbei war immer das Wichtigste, Joscha alles, aber auch alles in ihrem Rahmen Mögliche einfach zuzutrauen. Den Fokus darauf zu legen, was sie konnte und nicht darauf, was sie  n o c h  nicht konnte. - IQ unter siebzig, so stand es in einem Arztbericht einer der Ü-Untersuchungen, als Joscha eineinhalb war. - Als der Arzt mich auf einem Kongress fragte, was aus Joscha denn eigentlich so geworden sei, konnte ich sagen: „Na ja, sie entwickelt sich so vor sich hin, aber ihr IQ hat sich  n u r  verdoppelt.“ - Joscha hatte ein Cambridge-Zertifikat vor der Grundschule autodidaktisch erworben, übers Internet. Konnte perfekt tippen und mit der Maus umgehen, auch wenn sie noch Windeln trug und nicht sauber mit dem Löffel aß. Korrigierte penetrant die Rechtschreibung anderer. Und doch hatte ich eineineinhalb Jahre darum zu kämpfen, einen Platz für sie in einer Regelschule zu bekommen. Mit Bürgerbegehren und allem drum und dran, als beste Feindin des Schulrats. Ich muss ein so genanntes AO-SF-Verfahren (Ausbildungsordnung Sonderpädagogische Förderung NRW)

 

Als Grundlage für das Gutachten dienen Unterrichtsbeobachtungen, standardisierte Tests, wie beispielsweise Intelligenztests (K-ABC, Raven, CFT, HAWIK) oder Schulleistungstests (HSP, DEMAT, WLLP, DRT), Beobachtungen der abgebenden Schule beziehungsweise des Kindergartens, das schulärztliche Gutachten, Beobachtungen der Eltern etc.)

 

machen lassen, um die Eignung von Joscha für den Besuch einer Regelschule über eben etliche Gutachten feststellen zu lassen. Involviert sind Ärzte, Fachärzte, Schulärzte, Kindergartenleitung, Therapeuten etc. – schließlich die Leiterin einer Förderschule (die Joscha nie gesehen hat): Ihr obliegt es, die Gutachten zusammenzuführen und auszuwerten. – Ich finde die Tests, denen sich Joscha unterwerfen muss, teils demütigend, ich würde keinen bestehen, zumindest nicht diagnosefrei – und es kommt mir bisweilen vor, dass es um den Erwerb eines Lebensberechtigungsscheins geht. – Egal, sie besteht, der Besuch einer Regelschule sei zu verantworten, hm. – Ich habe auch eine inklusive Schule gefunden; die hinreißende Schulleiterin der Kettelerschule in Dransdorf, Frau Lang, schaut sich Joscha an, findet sie hinreißend und sagt schlicht zu. – Dann schaltet sich der Schulrat wieder ein: Nein, Joscha bekäme diesen Platz in der Schule nicht, definitiv. Er sei der Chef der Schulleiterin. Da seien erstrangig Geschwisterkinder an der Schule zu berücksichtigen und nicht zuletzt das, O-Ton, „Kriterium der Wohnortnähe“. – Aha. Ich frage, welche inklusive Schule denn näher sei zu unserem Wohnort, weil: Eine nähere Schule gibt es nicht. – „Egal“, sagt er, „sie kriegt ihn nicht, basta.“ Zitat Ende. – Ein umwerfendes Argument, ich alarmiere die Presse zur Sitzung der Abgeordneten. -  "Warum behandeln Sie mein Kind eigentlich dauerhaft, als wäre es ein ekliges Insekt", frage ich ihn vor laufender Kamera.

 

Joscha bekommt den Platz.

 

– Erst später erfahre ich, dass ich Joscha keinerlei AO-SF-Verfahren hätte durchlaufen lassen müssen… Der Förderbedarf sei bei Autismus, einer (zurecht?) geistigen Behinderung, per se gewährleistet und zu gewähren. Aha. - (Fast hätte sich bei der Schule wiederholt, was ich bereits 2009 erfahren hatte: Der Wechsel vom heilpädagogischen Kindergarten in einen integrativen Kindergarten wurde vereitelt, weil die Kindergartenleitung den Antrag nicht abgegeben hatte. – Tja. Bedaure. Die Plätze in integrativen KiGa’s seien vergeben – Ich hatte ausführlich mit ihr über einen Wechsel diskutiert, weil: Unter der heilpädagogischen Käseglocke – zwei Betreuerinnen für acht Kinder – fühlte Joscha sich nicht wohl. Sie sollte dort „soziale Kontakte“ lernen – aber keines der anderen Kinder konnte sprechen… Mir schien das ein Weg in die sichere Isolation, harmonisch separiert unter „Gleichgesinnten“, Kommunikation oder Austausch beiseite. - Selbst als es mir gelingt, doch noch einen integrativen Kindergarten zu finden, über Bonn Camillo, der Joscha einen zusätzliches Stühlchen gewähren möchte, wird der Wechsel verhindert: Schließlich sei der Antrag nicht fristgerecht abgegeben worden, schließlich dürfe die Kindergartenleitung nicht einfach ein weiteres Kind aufnehmen. Beschluss eines sechsköpfigen Gremiums, eigens zu einer Sondersitzung einberufen, zwei Opponenten stimmen gegen die Bewilligung. - Eine andere Kindergartenleiterin sagt: „Wir machen das unter der Hand, das geht keinen was an. Hören Sie auf, in Bonn rechtgemäße oder rechtsmäßige Wege gehen zu wollen. Das klappt nicht. Bringen Sie Joscha, wann immer es geht. Wir machen das schon. Sagen Sie es nicht weiter.“

 

Die Lehrer der Kettelerschule sind so engagiert wie ihre Schulleiterin, auch die Erzieherinnen leisten gute Arbeit. Die Schule wird zu Recht mit dem Jakob-Muth-Preis ausgezeichnet für gelingende Inklusion. Vor Frau Lang landeten 70 Prozent der Absolventen der Grundschule auf der Hauptschule. Nach ihrer Übernahme schaffen es 70 Prozent der Kinder auf’s Gymnasium. – Warum? – Nun, nennen wir es gnadenlose Anerkennung und Akzeptanz der Kinder, egal aus welchen Elternhäusern des sozialen Brennpunkts sie hier ankommen…

Mit Blick auf die Windeln habe ich Herzklopfen: Hoffentlich wird Joscha nicht gemobbt. – Nein, wird sie nicht. Grundschulkinder eignen sich sehr zur Inklusion – sie akzeptieren Mitschüler auch ohne AO-SF-Verfahrenheit. Ich suche intensiv qualifizierte Schulbegleiterinnen, drei an der Zahl, damit sie sich im Krankheitsfall oder in ihrem Urlaub vertreten können; sie studieren Sonderpädagogik, sie machen sich schlau: Wer oder was ist bittschön ein Autist? Wer oder was ist bittschön eine Autistin unter besonderer Berücksichtigung von Joscha? – Jeder Autist ist wie jeder Mensch: in erster Linie ein Individuum, in zweiter Linie schlicht anders. – Antragstellung bei der Stadt für ein Persönliches Budget, Formulare, Nachweise, Gutachten, Bewerbungsmappen, dann eine Hilfeplankonferenz. Wieder sitzen da mehr als ein halbes Dutzend Menschen aus diversen Ämtern und Institutionen in Hufeisenform, um meinen Antrag für Joscha gewissenhaft zu prüfen. Gesundheitsamt, Behindertenbeauftragte, Amt für Betreuung und Wohnen innerhalb des Sozialamts, Buchhaltung, Sachbearbeiter, Leiterin von irgendeinem Amt, noch eine Leiterin von irgendeinem anderen Amt, Protokollführung - ein bisschen hat das Ganze etwas von Gerichtsverhandlung. Ich bin Angeklagte und Verteidigerin in einem. Unter Verdacht: mein Kind. Und ich als seine Stellvertreterin: Betrüge ich die Stadt Bonn auch nicht, wenn ich Förderung für mein behindertes Kind beantrage? – Einen Tag vor der alles entscheidenden Konferenz – ohne bewilligte Begleitung darf Joscha keine Schule besuchen – habe ich einen grand mal. Ich habe in wenigen Minuten die Energie eines Marathonlaufs verbraucht und bin ziemlich matschig im Kopf und am Ende. - Wie soll ich mir hier die Zuständigkeiten und Namen merken? – Meine Kalkulation wird heiß diskutiert, freundlich natürlich. Aus einer Stunde werden eineinhalb. Erstellt wird eine „Zielvereinbarung“ und ein Vertrag und eine Bewilligung nach der Diskussion der aufgeführten Posten innerhalb der Kosten. Die Schulbegleiterinnen werden finanziert. – Warum nur komme ich mir nach der Hilfeplankonferenz bei aller Freude und Erleichterung so vor, als hätte ich gerade nach jahrelangem Aufwand meine Habilitationsprüfung abgelegt? – Leer, erschöpft, immer noch ängstlich. Vor der beidseitigen Unterschrift unter den Vertrag, der zahlreiche Paragraphen aufführt, die mir die Rückzahlungen ankündigen, falls ich irgendwie doch betrogen haben sollte… - vor den Unterschriften und der Bestempelung des Protokolls und der Zielvereinbarung glaube ich an nichts – außer Joscha. Die Schulbegleiterinnen, offiziell die Integrationshelferinnen, einarbeiten, ihre Krankenversicherung, ihre Arbeitsverträge, ihre Meldung beim Finanzamt, die Suche nach einem Steuerberater – ich will mein Kind fördern und fördern lassen, bin aber urplötzlich Arbeitgeberin. Ich, die ich in Mathe immer eine gute Sechs hatte, ich, der das Finanzamtschinesich immer Spanisch vorkommt. – Toll daran ist, dass es keine einmalige Veranstaltung ist: Auch wenn sich an der 100-prozentigen Schwerbehinderung meines Kindes bei aller Förderung so schnell nichts nachhaltig ändern wird, gilt das Prinzip: Alle Jahre wieder… Die Beamten leben davon. Sie kosten mehr als das, was ich für meine Schulbegleiterinnen beantragt habe. Sie sind überwiegend nett zu mir gewesen. In der Rollenbesetzung wurde good girl, bad girl dargeboten. Ich muss ihnen dankbar sein. Meinem Kind wird das Recht zugestanden zur Teilhabe, das ihm zusteht per Gesetz. Für meinen Einsatz bekomme ich Pflegegeld, Stufe drei. Ginge ich zwei Stunden am Tag die Woche putzen, verdiente ich mehr. Die studentischen Schulbegleiterinnen erhalten den vierfachen Stundenlohn der Putzfrau, schließlich sollen sie mehr leisten als ein Babysitter und mehr verdienen als bei McDonalds. – Im Persönlichen Budget ist für die Eltern nichts vorgesehen. Ich bin arbeits-, aber nie tatenlos. Und: Wir können einen Teil der Miete zahlen, dank des Pflegegelds. Auf Nebenschauplätzen agiere ich bei Arbeitsamt und Jobcenter. Ja, natürlich muss auch meine Existenz bewilligt werden. Faule Sau.

 

Mag klingen, als wäre ich selbstbewusst vorgegangen, Pressearbeit, Persönliches Budget, Zynismus als Überlebensstrategie usw. Viele Eltern schaffen das nicht, sie wollen weiter Vollzeit arbeiten und nehmen in Kauf, dass ihr Kind auf eine Förderschule geht. Es fühlt sich doch dort ganz wohl. Egal, wie sein Entwicklungsstand ist, egal, dass sie ihrem Kind mit dem Abschluss egal welcher „Förderung“ einer Förderschule oder ehrlicher: einer Sonderschule, eine bescheidene Berufsaussicht von 0,5 Prozent auf dem regulären Arbeitsmarkt einbrocken, lebenslang. – In der Zwischenzeit berate ich Eltern, helfe beim Überleben in AO-SF-Verfahren (allein die Termine!), im Dschungel der Zuständigkeitsbereiche auf Behörden, besser gesagt: im Dschungelkarussell (zuständig sei nicht diese Amt, sondern das andere, wohingegen das andere Amt meint, es sei nicht das andere Amt, sondern noch ein anderes, wobei allerdings das noch anderere Amt meint, zuständig sei das „dieses Amt“ vom Anfang, das aber meint,…, - bei der Antragstellung von Persönlichen Budgets. – Wenn sie Schulbegleiter oder, schicker ausgedrückt, Integrationshelfer über Lebenshilfe, Diakonie oder Arbeitersamariterbund rekrutieren, erhalten diese eine „Verwaltungsgebühr“ in Höhe von 8,50 Euro (Stand 2010)- pro Stunde, wohlgemerkt. Für die Betreuer bleibt damit ein Stundenlohn unterhalb von McDonalds, also eine gelungene Grundlage für häufige Fluktuation, also eine Grundlage für das Sicherheitsbedürfnis eines behinderten Kindes. Nimm und reich weiter… - Ist doch egal, nicht wahr, Hauptsache, s’ist einer dabei, gell! - Wurscht, welches Glück sie bei der Güte der Auswahl der Qualität der Begleitung ihres Kindes hatten: Im Durchschnitt ist der Verbrauch an Begleitern in der Grundschulzeit: 9, in Zahlen: neun. Smile: Die sind so dreist, ihr Studium abzuschließen oder nach Guatemala auszuwandern oder einen Partner in der 1000 Kilometer entfernten Küste aufzutun, was eine Wochenendbeziehung so ziemlich verunmöglicht und damit eben die verlässliche, konstante, kontinuierliche Begleitung ihres Kindes. Tz.

 

Wozu das alles? – Schulräte, die sich als Vorgesetzte von Schulleitern gebärden, teils mit kriminell anmutenden Aktionen, als hätten sie die Macht gepachtet über die Inklusion. Schulräte, die von Schulen mit gelingender Inklusion Sonderpädagogen abziehen, bis deren Fortsetzung guter Arbeit kaum zu halten ist. Neben herausnehmend guten Exemplaren: Manche Vereine, Verbände, Institutionen, deren Leiter an Gel(d)tungsdrang (oder heißt es: Geld-Dungs-Drang?) ersticken; die mit skrupelloser Willkür Unterstützung und Verteilung ihrer Gelder obwalten, die Ehrenamtliche ausbeuten und ausnützen, innerhalb der Behindertenvertretung konkurrieren und intrigieren. Bis aufs Zahnfleisch Heilpädagogik und Sonderpädagogik verteidigende Positionen, die Integration zielorientiert verhindern – und dann urplötzlich in leitenden Positionen der Inklusionspolitik wiederzufinden sind. – Man muss halt mit der Zeit gehen. Ja, Inklusion, da waren sie ja eigentlich schon immer dafür, sagen Sie mir doch bitte, wie geht das eigentlich, das mit der Inklusion? – Sie zücken Block und Bleistift und schreiben eifrig mit, danken danken danken für all die wertvollen Tipps, die profunden Kenntnisse – und hauen einen wenige Wochen später in die Pfanne, im Wahn, man würde ihre Position gefährden. Die Institutionen, die involviert sind, arbeiten hermetisch. Wenn Du nicht mehr weiter weißt, gründe einen Arbeitskreis. Bonn gründet vorsorglich sieben. Schneewittchen und die sieben Zwerge, Bonn und die sieben Arbeitskreise. - Die Gremien, die sich begründet gründen lassen, sieben an der Zahl, sollen einen Inklusionsplan der Stadt Bonn erarbeiten – und tun das jeweils für sich. Ein grüner runder Tisch war gerade keiner da. Teilhabe nur auf Einladung. Behinderte oder deren Angehörige werden behandelt wie Hunde vor der Metzgerei: Wir müssen leider draußen bleiben. Der Inklusionsplan: ein um das andere Mal vertagt. Die verflixten Sieben. „Die Stadt“ – wer immer das auch sein mag – mahnt an, dass man doch nun mit einem Plan aufwarten sollen wollen können müsse. Die Schulen, die Inklusion umsetzen sollen, hängen im Nirwana: Sie haben keine Anleitung zur Umsetzung, sollen diese aber bedingungslos erfüllen. - Die arme Stadt muss nun schimpfen: a. mit den Gremien. B., dass die Schulen nichts tun. Ämter und Behörden angeln nach und rangeln um, na, was wohl: Zuständigkeiten. Man könnte auch Posten oder Positionen oder Sessel dazu sagen, völlig uneigennützig. Vereine dienen sich schamlos an und meinen, das sei Diplomatie. Sie schreiben die 180. Petition des Inhalts: Wir wolln Inklusion! und machen sich gekonnt lächerlich. Und warum? Die Vereinschefin will Alleinherrscherin bleiben. Das Regiment verspricht Schulen alles oder besser alles nicht(s) und erarbeitet sich teils Hausverbot. – Gegründet werden schließlich sogenannte „Inklusionsbüros“, gleich zwei oder waren es drei an der Zahl? – Wer glaubt, dass die Pionierarbeit der Inklusion an irgendeiner Stelle von Idealismus durchdrungen sei, legt auch die Hand dafür ins Feuer, dass Timbuktu zu NRW gehört. Eine , oha, erstmals öffentliche Veranstaltung zur Inklusion, benannt als „Tagung“, wird in der Hochburg der Separation durchgezogen: Kinderneurologische Zentren hatten die – zumeist gut eingelöste - Aufgabe, anhand der Defizite den Förderbedarf zu ermitteln, also viel Korrespondenz mit den Krankenkassen, nicht primär die Aufgabe, anhand des Könnens eines Behinderten größtmögliche Wege zur Inklusion zu eruieren. Die sind nun Gastgeber bei der Inklusion. Unterschwellige Sicherung der eigenen Position. Aber ist es etwas anderes, wenn man selbst in den Interessenvertretungen zum gemeinsamen Lernen und Leben mit Eigennutz gegerbert ist, dessen Intrigantentum durchaus einer vereinsrechtlichen Prüfung der Statuten äußerst erfolgreich nicht standhalten würde? Der Wahnsinn ist die Normalität in Dosen: Die Krönung ein Amt, das eine Frau beauftragt, bei Leuten wie mir anzufragen, wie sie Förderung bei, äh, diesem Amt beantragen solle. Versprochen, es bleibt unter uns: Frei raus damit: Welche Tricks und Finten? Wie hole ich das meiste raus? - Dumm war, Madame hat kein behindertes Kind, weder im Rollstuhl, noch mit Down-Syndrom und weder weder noch mit Glasknochen oder war es Multiple Sklerose oder Morbus Krohn... (Allein diese Kombination! Allein: Die Frau hat überhaupt kein Kind.) – Sie stottert, befragt nach dem Namen der Behinderung, ich weiß das gar nicht so genau, ich verwechsle das immer. - Wie einfach es ist, über eine Nummerrückverfolgung die unter falschem Namen anrufende Dame ausfindig zu machen und dingfest zu machen, wes Geistes Frosch die ganze Aktion ist. Im Internet eine stolze Visitenkarte der Anruferin als Praktikantin vom Amt, die den Aufstieg zur Auszubildenden vom Amt geschafft hatte. Man konnte ihr und in Kopie dem Amtsleiter viele Tipps und Tricks zur Hintergehung des Amts übermitteln und kommentarlos Hinweise auf die Ansprechpartner mit dem geringstmöglichen Denkvermögen mit vernachlässigbaren Resthirninhaltsstoffen senden. Kleinkriminalität mit hochpotenziertem Dilletantismus.

 

Wie hält man das aus? – Es gibt Eltern, die weinen, es gibt solche, die aufgeben. Es gibt einige, die nicht mehr mit anderen Menschen sprechen und ein paar, die über Selbstmord nachdenken. – Es gibt einige, die auf Distanz gehen zu ihrem Kind, das Opfer zum Täter verkennend. Aus irregeleiteter Selbstverteidigung: Ich wars nicht, Herr Lehrer. – Ein behindertes Kind anzunehmen, so wie es ist, es zu fördern, so wie es das annehmen kann und mag, heißt nicht immer, aber zunehmend oft, den Weg in den Abstieg zu besteigen (sic!), nicht des Kindes wegen, nicht aus dessen Schuld, nicht einmal aus dessen Verursachung: Es kann definitiv nichts dafür. Es hat mit der Entwicklung ins Tal nicht das Geringste zu tun. Eltern – daraus werden nicht selten Alleinerziehende – bräuchten nichts anderes als Zustimmung, Anerkennung, Achtsamkeit, Akzeptanz.

Viel (Langzeit-)Arbeitslosigkeit, viele zerrüttete Familienverhältnisse, allerwenigste Unterstützung von Verwandten oder gewesenen Freunden, keine systematische oder verlässliche Unterstützung bei der Förderung, enorme Angst. Irrsinnige Kumulation von Hilflosigkeit, Einsamkeit, Überforderung.

Was einen aufrecht hält, ist, sich mit anderen zusammenzutun, denen es oft nicht besser ging oder geht in dieser chronischen Missachtung, bis sie einen fanden, der die Zeit hinter sich hatte, als es ihm überhaupt nicht mehr gut ging, im Leben im zweiten Erdgeschoß unterhalb des Kellers. – Man muss sich gegenseitig zum Lachen bringen. Stellen Sie sich vor: Sie sind Doppelverdiener im Sozialschmarotzen. Zum einen kassieren Sie Hartz-IV oder fünf oder sechs. Sie  S I N D  das personalisierte Hartz-IV. Sie arbeiten kontinuierlich, na sagen wir es: nichts. Sie dürfen alleine zu Hause bleiben mit ihrem behinderten Kind, das nach wie vor hemmungslos begafft wird, wenn sie einen Schritt vor die Tür setzen. Aus Mitleid. Aus Distanzierung. Unglück (ein behindertes Kind ist nach klassisch nichtsahnender Vorstellung, das größtmögliche Unglück), das färbt doch ab. - Und Sie? Sie sind wahrscheinlich doch irgendwie Schuld daran, dass ausgerechnet Ihr Kind dieses seltene Syndrom, schrecklich… - Sie kassieren zudem Pflegegeld, habgierig, skrupellos, obwohl Sie so grenzenlos arbeitslos und ohne Arbeit sind. Luxus, nicht wahr? – Sie legen Wert auf Gedeih und Nichtverderb eines Kindes, das Sie lieben, auch wenn klar ist, dass es weitere Steuergelder verschlingen wird. („Bonn packt’s an“ – hier konnte man Ideen einreichen, wie Bonn das schönste Städtchen im ganzen Land werden könnte: Hervorstechend der Ideenreichtum, wie Bonn sparen kann an diesen ständigen Kosten durch Behinderte: Haben wir etwa nicht genug ausgegeben für Straßenbahnhaltestellen? Irgendwann muss doch mal Schluss sein mit dieser Inklusion… Wir brauchen eine neue Beethovenhalle. Internationales Renommee! - Schock ist das richtige Wort.) – Aber Sie! Dreist. Ihr Kind in der Schule meines Kindes. O.k. Ich habe ja nichts gegen Behinderte. Aber muss es ausgerechnet in der Klasse meines Kindes sein? - Die Bildung anderer nichtbehinderter Kinder gefährdet. Bildung, Bildung, über alles, Bildung nach PISA mal Daumen. Mathe und Fremdsprachen entscheidend, nur so zum Beispiel. Für Soziale Kompetenz gibt es keine Noten, wenigstens keine relevanten. – Atemberaubend: Andere Eltern stehen auf und haben die Bildungseinbußen zu verkraften: Der Lehrplan, nicht eingehalten: Ihr frisches „Fritz-Konrad, auf-steh-hen, Karriere machen!“, das bleibt denen im Halse stecken. - Weil der Physiklehrer sich jetzt auch noch „mit so was befassen soll“. Er protestiert. Hat er Physik studiert, um sich mit Behinderten zu beschäftigen? – Nein, hat er nicht. Sagt er. Unumwunden. – Und die Mama von Jeremima Petermann aus der 1c sagt beim Elternabend, „Audismuss, interssant, das hört man ja jetzt öfders. Was kann Ihres denn Besonderes?“ Wie konnten Sie denn auch ein autistisches Kind in die Welt setzen, dass nicht wenigstens Savant ist? – Und Ihres?, frage ich.

 

Aushalten. Das Radio anmachen, wenn man an den grassierenden Unsinn denkt. - Motor fürs Aushalten und Weiterfahren war immer mein Kind, vorbei an WutVerzweiflungWut. - Irgendwann mutierte ich über Nacht zur "Inklusionsexpertin" der Stadt, durfte das Schulamt beraten. Trotzdem ging die Kämpferei weiter. Deutsche Behörden, Antragsformulare, alle Jahre wieder. Die Wiederholung macht nur deutlich: eben alles Jahre wieder, auch dieses. Auch das kommende.

 

Den hab ich noch: Ein Sachbearbeiter, der sich erdreistet, neun Monate nach Antragstellung am Tag des Beginns auf einer Weiterführenden Gesamtschule den Schülerspezialverkehr ablehnend zu bescheiden. Man hätte ja vorab mal nachfragen können. Bei der Kollegin, die ihn im Urlaub vertrat, sagte der Anrufbeantworter, dass eine Kollegin sie im Urlaub vertrat. Die Stelle dieser Kollegin war jedoch in der Urlaubszeit neu besetzt worden, von einer neuen Mitarbeiterin, die aber mitzuteilen beauftragt war, dass man mit der Sachbearbeiterei bis zur Rückkehr des Hauptsachbearbeiters warten müsse. Der schreibt dann also: Nö. Transport zur Schule is nich. Nach Paragraph sowienoch und Paragraph sowienoch sowieso. – Ich denke: Mit jedem Menschen lässt sich sprechen. - Der sagt dann also: Dass das außergewöhnlich gehbehinderte Kind, langsam, Treppe steigend auf allen vieren, nicht Kilometer zur Schule bewältigen konnte, autistisch, mit Weglauftendenz und ohne Gefahrenbewusstsein, mit Computer im Ranzen, mit Epilepsie, - nein, Merkzeichen B und H halfen nichts, auf Begleitung angewiesen und auf Hilfe angewiesen, mit 100-prozentiger Behinderung, nein, das reichte nicht. Und überhaupt: Für das Kind sei kein fachärztlicher aktueller Nachweis ihrer Epilepsie eingereicht, das müsse man doch, wenn man ordentliche Epileptikerin sein wolle. Jedes Jahr. Sonst könnte die Epilepsie ja auch plötzlich einfach weg sein und man würde es nur behaupten. Er tue nur seine Pflicht. – Zufälligerweise konnte ich trumpfen und war stolz auf Joscha: Sie hatte mich im Erschleichen des Schülerspezialverkehrs nicht im Stich gelassen: Ich hatte vom vergangenen Jahr für sie einen Status Epilepticus im Angebot, mit zweifachem Krankenwagentransport und Rettungshubschrauber von der Autobahn und Notaufnahme. Ich mag es, wenn endlich einmal was los ist in meinem Leben. - Die Berichte könne ich ihm faxen. – Aber er hat ein überzeugendes Argument an der Hand: Außerdem, sagt er, und holt tief Luft: Ein behindertes Kind, das eine Regelschule besuchen kann, muss seinen Schulweg zu Fuß bestreiten, sonst hat es auf einer Regelschule nichts verloren oder ist nicht richtig behindert. So der Sachbearbeiter. - Mit solch einem Irrsinn verbringe ich meine Zeit. - Gut, er habe all das mit den Merkzeichen mit der Behinderung ein bisschen übersehen, aber jetzt bleibe es bei seiner Entscheidung und ich könne ja Widerspruch einlegen, aber nicht erwarten, dass er den schnell bearbeite, er habe ja schließlich noch anderes zu tun. Da lägen noch jede Menge andere Anträge, die er noch abseitig, nein, abschlägig bescheiden müsse. Ich könne ja klagen. Klage erheben. – Danke, ich kann gar nicht genug klagen. - Wen wundert es, dass man sich freiwillig in radikale Selbstisolationshaft begibt, sich ins Eremitendasein begibt, lästige, Kosten verursachende Mutter eines lästigen, kostenverursachenden Kindes. – Just an dem Tag ruft eine Freundin an. „Stell Dir vor, da hat er zu mir gesagt, Sie hätten es ja nicht kriegen müssen, es gibt heutzutage so viele Mittel und Wege,… Down-Syndrom, das muss nicht sein. So was darf so ein Sachbearbeiter eines Amtes zur Betreuung Behinderter von sich geben. Ungestraft.“ - Ich erzähle ihr von „meinem“ Sachbearbeiter. – „Wow, auch nicht schlecht!“, muss sie zugeben. – Ich helfe ihr beim Widerspruch. Und starte meinen. –

 

Ich habe gegen diesen Typen, dessen Intelligenz kaum über der Körpertemperatur liegt, "gewonnen", Joscha bekam die Fahrt zur Schule. Aber ich behielt die grenzenlose Schikanierei, sie hatte kein Verfallsdatum. - Und nun? - Ja, ich warte dieses Jahr wieder auf den Bescheid zu dem Antrag, den ich vor neun Monaten gestellt habe. Wieder bei dem Menschen, der gezielt sparsam im Geiste ist, so als hebe er seinen Verstand auf für bessere schlechte Zeiten. Herr Lehmann, komma, Mann, komma, Fred. – Er kann nach der unvermeintlichen Bewilligung des Schülerspezialverkehrs nunmehr auch die Quittungen für die bisherige Taxibeförderung nur bearbeiten, wenn ich einen weiteren Antrag ausfülle. Einen, den er erst noch anfertigen muss. - Es gibt so viele von Ihnen. Von diesen Lehmanns. - Beim WDR hat man sich bereiterklärt, einen seiner Clons um eine Stellungnahme zu bitten. Wie man es schafft, einem Kind mit Glasknochen und schwerer Gehbehinderung für die Hälfte der Schulstunden eine Begleitung zu gewähren, in 15 Stunden von 30 hilft ihm jemand, sein Klassenzimmer im 1. Stock zu erreichen, immerhin. Es fehle ja noch immer ein aktualisiertes fachliches Ärztegutachten, dass der Mensch ohne Begleitung für die Erfüllung der Schulpflicht nicht wenigstens hälftig alleine klarkommen könne. Argumentation kenne ich schon „von daheim“: Bonn sei pleite, Bonn müsse sparen. So ins Mikro genuschelt vom OB, Herrn Oberbürgermeister, der in seinem früheren Leben Leiter einer integrativen Gesamtschule war. Ich bekomme das Mikro kurz nach seinem Amtsantritt. Er könne da nichts tun, er sei dafür nicht zuständig. Er fühlt sich eher zuständig für den Bau einer neuen Beethovenhalle. Und nach Jahren, nach dem Bürgerbegehren, bei dem man so manchem Abgeordneten erklären musste, dass es bei der UN-Konvention zur Integration nicht (nur aber auch) um Migranten gehe, - ach so, Sie meinen die Behinderten - ist der OB dann zuständig für die stolze Darlegung, dass Bonn führend sei in der Inklusion in ganz NRW. Die Prozentzahlen, die er von sich gibt, erhöhen sich binnen Wochen fast täglich, verlässlicher als der DAX. Plötzlich ist er beteiligt, wenn eine Bonner Schule einen Preis für gelingende Inklusion erhält. Hier darf er Reden, hier hat er doch etwas mit Inklusion zu tun und zu sagen. - Bonn: 26 Prozent Inklusion. Bonn: fast 40 Prozent Inklusion. So kann’s gehen, wenn man nochmals den Taschenrechner bezirzt. – „Bonn ist pleite. Bonn muss sparen.“ Der Städtenamen ist ein Platzhalter für die meisten. Sagen wir in Deutschland.

 

Durchhalten! Durch-hal-ten! - Aber wozu? - Lieber bei der These bleiben: Inklusion gelingt, Punkt. - Lieber mich mit Joscha zum Schwimmbad schaffen, auch wenn meine Nerven verbrannt sind. Sie fühlt sich so wohl im Wasser, vielleicht weil sie sich spürt. Ich mich auch. - Wer erdreistet sich eigentlich, die Normen zu erschaffen für die Norm für das vermeintlich Normale? - Wir haben  GOTTLOB  auch so viele Begegnungen gehabt mit Menschen, die sich schlicht dafür entschieden haben, GUT zu sein, fernab von Kapitalismus und Leistungsgesellschaft und Gewinnoptimierung und Effizienz. Gutsein ist eine Entscheidung. Es ist fatal anstrengend und man verbaut sich damit auch viele Wege und Karrieren. "Entfaltung der eigenen Persönlichkeit", nun ja, ich habe extrem viel von Joscha gelernt; meine Entfaltung ist ohne ihre nicht zu haben, Kontostand beiseite. Natürlich habe ich dreimal täglich auch insgeheim den Wunsch, sie auf den Mond zu schießen, und tue mich schwer, mir das zu verzeihen. Nervenaufreibend, dieses entzückende Biest. Präpubertierend in ausgeprägter Normalität der Resistenz und Renitenz gegenüber dem Personal in Form einer Mutter. Zeitraubend, unbegrenzt fordernd, manchmal beharrlich Kleinkind, manchmal weit hinter Teenie-Tendenzen, manchmal Teletubbies, manchmal Hannah-Montana-längst-hinter-sich-gelassen. Manchmal gefühlstaub und entwicklungsverweigernd, manchmal engagiert interessiert an der Kindernothilfe oder auch sogar an der Situation in ihrer Umgebung. „Mama, bist Du etwa müde?“ – Gleichaltrige sind ihr suspekt: Zu laut, zu schnell, zu albern. Selbst Lehrer machen Witze, muss das sein? - Ironie und so: nicht zu raffen. Die sagen was und meinen das Gegenteil vom Wörtlichen. Raff das einer. Redewendungen, Metaphern: nein, danke. Was soll das schon wieder heißen: „Die Wupper runtergehn“ oder „in den Löffel beißen“ oder „aus den Wolken fallen“? - Sie sei, wie sie sei: sie ist liebenswert. Ein Geschöpf dieser Welt, basta. Liebenswert und sonst gar nichts. Das kann man ihr gar nicht oft genug sagen: Wie gut sie manche Dinge kann, die andere schlechter können als sie. Autismus und Hochbegabung. Inklusion und Hochbegabung. Ja, das geht.

 

Nach all diesen Gedanken: Zielorientiert sein, wie es modern so (un-)schön heißt. Was will ich? - Ein Unternehmen gründen, in dem einige Menschen mit all ihren Stärken und Schwächen eine Existenz bestreiten können. Eine Homepage gestalten, in der dies nachvollziehbar wird. Vielleicht sogar eine dieser fundraising-Aktionen schaffen (ich kann das Wort kaum fehlerfrei aussprechen) - mit denen man diese integrative Unternehmensgründung anschieben kann - wohlgemerkt, um dann Gegenleistungen zu erbringen. - Wir haben, ich schwöre, noch kaum etwas geschenkt bekommen. Das ist o.k. - Ich habe 22.000 Bücher eingegeben, ich werde weitermachen. Was ich brauche, ist ein sauberer Lagerplatz, unsere Wohnung, unser Keller: nur noch im Stelzengang zu bewerkstelligen. Wenn ich mehr Platz finanzieren kann, um die Bücher unterzubringen, setze ich den ersten Behinderten neben mich an den Küchentisch und zeige ihm, je nach seinem Können, was er tun kann, um nicht weiterhin Adventskalender füllen zu müssen mit Schokolade, die kaum einer mag. - Lieber Gott, steh mir bei, alles andere ist einerlei. Amen. - Manchmal helfen schon die einfachsten Gebete, wieder Kraft zu schöpfen, wenn man sich vor chronischer Müdigkeit auf den Boden werfen möchte. Wenigstens eher als Stoßgebete in Form von Argumentation und Appell an die Verwaltungsinstanzen von Behinderten. Business und Obrigkeit as usual.

 

Ist es nicht verrückt? - Es gibt Milliarden Milliarden an Planeten und Sternen und man beschäftigt sich hier Wochen und Monate mit dem Sachbearbeiter der Rubrik "Schülerspezialverkehr". –

Andererseits:

Wir haben das Glück, die Aufgabe der Pionierarbeit im Bereich der Inklusion angehen zu können.

Inklusion ist etwas geworden, was sich nicht mehr wird vermeiden lassen.

 

Hitler, Euthanasie. – 1980 ff. – ein Gerichtsurteil, bestätigend, dass die sichtbare Anwesenheit von Behinderten im Urlaub die Erholung erheblich beeinträchtigt. Das UNO-Jahr der Behinderten. Das Krüppeltribunal. Die Abwehr von Diskriminierung. In meiner Kindheit wurden Behinderte noch im Keller versteckt. In Deutschland dauert es durchschnittlich ein Viertel Jahrhundert, bis es von Unrechtsbekämpfung bis hin zu entsprechenden Gesetzen zur Verhinderung des Unrechts schaffen. Behinderte, Homosexualität, nur zwei Beispiele. Mein Onkel musste noch ins Erziehungsheim, weil er schwul war. Und hängte sich schließlich auf. Ich würde ihm gerne sagen, dass es den 175-er Paragraphen nicht mehr gibt, dass er wieder leben kommen darf und lieben. Wen immer er will. Und ich ihn sowieso.

 

Immerhin: Es gibt Nachteilsausgleich, Behindertenparkplätze, Rollstuhlrampen. Es gibt eine UN-Konvention zur Integration. – Aber reicht das aus? – Anderssein ist nach wie vor ein Makel. Das „Wolle mer se noilasse?“ der Integration, sprich: manchen Behinderten öffnen wir nach sorgsamer Abwägung vielleicht die Tür ins sogenannte Normale. Vielleicht auch nicht. Das „Jeder Jeck ist anders“ der Inklusion ist ein Fortschritt. Es rüttelt an der Normierung. Und dennoch: Wie viele Behinderte kennen Sie persönlich, aus nächster Nähe, nicht nur durchs Zunicken Richtung Rollstuhlfahrer aus der Nachbarschaft? –

Wann hört das auf mit den Ranglisten innerhalb der Behinderungsgrade? Ein Rollstuhlfahrer, nun gut, den muss ich nur schieben, ab und an. Der ist dann dankbar. - Down-Syndrom, o.k., das lasse ich mir gefallen; die lächeln doch immer so schön. - Aber Autisten? Sind das nicht die, aus denen man nicht schlau wird? Irgendwie potentielle Amokläufer. Das wird man ja wohl noch mal sagen dürfen! – Auch die mit Depressionen sind mir suspekt. Haben wir’s hier etwa nicht gut! Am Ende schmeißt sich dann wieder einer von denen vor den Zug und ich verpasse den Anschluss…

Wann wird man stolz sein, nicht normal zu sein? Wann ist „normal“ ein Schimpfwort für „Durchschnitt“?

 

Autismus, bittschön eine Definition. Möglichst knapp und pointiert. -

Sorry, kann ich nicht.

Bieten.

Vielleicht so: Autismus ist zu definieren als Autismus, den man nicht definieren kann.

Autismus galt, siehe Kanner-Syndrom, getragen auch durch Menschen wie Bruno Bettelheim, als Folgekrankheit auf die Fühllosigkeit der Kühlschrankmutter oder Eisfachmuttter. Sie liebten ihr Kind nicht gescheit, so dass es keine Gefühle entwickeln konnte, so lautete die These. Die Mutter eines autistischen Kindes wurde entsprechend stigmatisiert. Heute stehen Gen-Deformationen als Ursache zur Debatte bis hin zu Missbrauch der Mutter in ihrer Kindheit bis hin zu Fehlernährungen (rasanter Anstieg von Autismus, wenn Menschen aus Somalia nach Kanada auswandern), bis hin zu Impfschäden bis hin zu Darminfektionen mit Clostridien.

Zu deutsch: Wir wissen es nicht. Um die Absurdität zu überspitzen: Vielleicht stellt sich am Ende des laufenden Jahrhunderts heraus, dass ein Kraut aus Uromas Garten oder ein Shampoo von Rossmann des Autismus’ Kern und sein Pudel ist. – Eltern quälen sich mit den Gedanken von Schuld und wollen um jeden Preis die Ursache ergründen, natürlich, um entsprechende Medikamente zu entwickeln, die Autismus „heilen“. – Ich habe lange gebraucht, dass es a. diese Heilung nicht gibt, und dass sie, b. nicht einmal sinnvolle Zielsetzung sein kann. Autismus schlicht als Wesensart anzuerkennen, als andere Perspektive auf die Welt. Es gibt Anhaltspunkte, die auf Autismus deuten, „beliebt“ sind z. B.: Verweigerung von Blickkontakt, Berührungsabwehr, akustische Überreizung, Spleens, die Kataloge der ICD’s der Krankenkasse listen solches und sind voll davon. Es steht nicht darin: Man kann viel lernen: Autisten lügen nicht (oder selten?), Autisten bezweifeln den Sinn von Small-Talk, von falscher Höflichkeit, sie haben durchaus Gefühle und leben sie öfters geradeaus, was äußerst unangenehm werden kann. Aggression, Autoaggression. Hm. Was soll daran schlecht sein, Autismus zu heilen! – Bei den Formen von Aggression hätte ich ein persönliches Interesse daran, ganz unautistisch.

Die Unterscheidung von frühkindlichem Autismus, Asperger Autismus, high-functioning Autismusa-typischer Autismus, fast hätte ich den vergessen- , wird weniger relevant seit Einführung des Begriffs „Autismus-Spektrums-Störung“. Man merke: Das ist ein Fortschritt gegenüber dem Autismus-Syndrom. („Syndrom“, das klingt schlimmer als „Krebs“.) – Dennoch: Hilft die Kategorisierung wirklich weiter im Umgang mit Autisten? – Statt der handlungsüblichen und handlungsüblen Tests könnte man eine individuelle Betrachtung und Beschreibung eines jeden Autisten erwägen, mit dem Ziel, individuelle Förderungskonzepte anbieten zu können. Förderungsangebote, die man offen zur Verfügung stellen und modifizieren kann. Was und wie viel braucht dieser bestimmte Autist, der anders sein mag als viele andere Autisten, um teilnehmen zu können oder um ein halbwegs akzeptables Leben führen zu können?

Wir sind alle Modifizierungen ein und derselben Spezies Mensch. Wir wissen, dass sich das dennoch sehr unterschiedlich anfühlen kann. Autisten geht das nicht anders. Hat sich schon einmal jemand die Frage gestellt, ob ein Autist zwingend einen anderen seiner „Gattung“ mögen muss? - Tztz, die haben doch was gemeinsam! Die könnten doch so schön Rücken-an-Rücken-vereint-sein, weil sie doch alle keinen Wert legen auf andere Menschen, gell. Dumm nur: Die halten sich nicht dran. – So, wie ich mich nicht unbedingt gut verstehen muss mit jemandem, der, wie ich, gerne Red Hot Chilli Peppers hört.

 

Wir haben neben den täglichen Kleinkriegen um Inklusion (neben dem täglichen Glück) keinen Großkrieg. Wir wissen nicht, was Putin – ein zutiefst verletzter Geist, der seiner Mutter nicht verzeiht – vorhat. Er weiß es jetzt wahrscheinlich selber noch nicht. Ich weiß nicht einmal, was ich morgen koche. - Joscha, wie soll ich Dir erklären, wohin die Reise geht? – Sie kennt die Vokabeln „Behinderung“ und „Autismus“ und „Inklusion“. Sie las sie, als ich Einladungen zum ersten Tag des Autismus an die Wände klebte und sie im Buggy schob. Ich habe sie immer laut und vernehmlich ausgesprochen und ihr erklärt, was ich erklären kann, wohlgemerkt nur dann, wenn sie Fragen stellte. Sie ist elf und weiß schon, viel zu früh, weil sie viel liest, was man in der Zeit des bösen Onkel Hitlers (!) „mit ihresgleichen“ gemacht hat. Behinderte ex und hopp. „Euthanasie“ ist ein beschönigender Ausdruck. „Mord“ ist besser. – Joscha: Sie will von mir die Versicherung, dass sich das nicht wiederholt. Und das Einzige, was ich tun kann, ist, ihr ihren Weg vorzubereiten, ist, dass sie Selbstbewussstein und Selbst-Bewusstsein genug erlangt, an sich (und andere Menschen?) zu glauben und zu vertrauen. Und nur dort zu kämpfen, wo es sich lohnt: Kämpfen für etwas, nicht kämpfen gegen etwas. – Ich bin ihr nur selten ein gutes Beispiel. Viel zu viel an Temperament und an Worten. Viel zu viel gefühlvolles Leben an verstandesmäßigen Erkenntnissen vorbei. Gehört sich das? – Egal. Ich bin in dieser Hinsicht wohl beschämend normal und muss damit leben…

 

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Ohne jede Ironie: Wie überall: In Bonn gibt es hochkompetente, hochengagierte, hochsympathische Menschen in allen Bereichen rund um Behinderung und Inklusion. Ihnen gebühren Dank und Bewunderung und Bewunderung und Dank. Den kriegen sie von mir, eimerweise, ob sie wollen oder nicht.

Sollten in diesem Text hie und da von der anderen Sorte die Rede sein, so können unmöglich Sie gemeint sein. Oder es liegt ein Zufall vor. Oder ein Irrtum. Eine Verwechslung. Jedenfalls was Falsches. Was grundsätzlich Falsches. Sie sollten sich prophylaktisch in keinem Fall angesprochen fühlen. Mit Ihnen ist wie mit mir: alles in Ordnung, in bester! - Schlafen Sie, schlafen wir: ruhig und süß und viel Glück beim Raten und Träumen.

 

 

Inclusion, autism, autistic, autist, participate, participation, Convention on the Rights of Persons with Disabilities, handicap, handicapped

 

UN-Behindertenrechtskonvention, Chancengleichheit, Gleichberechtigung, Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, persönliche Assistenz, persönlicher Assistent, Weltautismustag, Erster Arbeitsmarkt, ATZ, Autismuszentrum,